Über den Niedergang der SPÖ wird derzeit viel geschrieben und debattiert. Viele mehr oder weniger stichhaltige Gründe für den tiefen Fall der einst so bedeutsamen Sozialdemokratie in Österreich werden in der veröffentlichen Meinung kolportiert. Hinsichtlich des wohl zwingendsten Grundes existiert jedoch ein blinder Fleck.

 Dieser Grund kann in einem simplen Satz zusammengefasst werden: In EU-Europa kann keine sozialdemokratische Politik gemacht werden. Die gesamte EU-Konstruktion – also die EU-Primärverträge und Institutionen - laufen darauf hinaus, sozialdemokratische Politik, die diesen Namen verdient, zu verhindern. Die EU verpflichtet in ihren Grundlagenverträgen alle Mitgliedsstaaten zu einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und zum „Abbau aller Handels- und Investitionshemmnisse“ in der Weltwirtschaft. Und kaum etwas ist derart in politischen Zement gegossen wie die EU-Primärverträge. Sie können nur verändert werden, wenn in allen 28 EU-Staaten gleichzeitig eine Verfassungsmehrheit dafür zustande kommt. Schon in einem einzigen Staat so etwas zu erreichen, ist für soziale Bewegungen von unten äußerst schwierig. Schwierig hoch 28 ist aber faktisch unmöglich!

Der Staatsrechtler Andreas Fishan von der Universität Bielefeld kommt daher zum Schluss: “Die konstitutionellen Grundlagen der Europäischen Union schotten diese gegen eine sozialreformatorische Politik ab, lassen eine Umstellung in Richtung einer solidarischen Ökonomie nicht zu, weil diese mit den normativen Vorgaben des europäischen Primärrechts nicht übereinstimmt […] Die programmatischen Festlegungen des europäischen Primärrechts sind so eng, dass sie Politik nur in einer ganz besonderen, nämlich neoliberalen Weise zulassen“ (1). Diese Analyse stammt aus dem Jahr 2008; die Entwicklungen seither haben sie mehr als bestätigt. Auf Grundlage dieser EU-Verträge konnten die Machteliten sogar das völlige Scheitern des Neoliberalismus in der tiefen Wirtschaftskrise seit 2008 in eine „Radikalisierung des Neoliberalimus“ wenden, um den Sozialstaat zu einem Auslaufmodellzu machen (O-Ton EZB-Chef Mario Draghi). Die SPÖ hat bei dieser „Radikalisierung des Neoliberalismus“ noch fleißig assistiert, indem sie gemeinsam mit der ÖVP z.B. den EU-Fiskalpakt durch den Nationalrat gewunken hat, der die gewählten Parlamente in der Budgetpolitik weitgehend entmündigt. Der Ökonom Stephan Schulmeister merkte dazu vor kurzem an: "Mit dem EU-Fiskalpakt haben christ- und sozialdemokratische Politiker ihre Selbstentmündigung rechtlich abgesichert."(2)

Eine Partei wie die SPÖ, die eisern an diesem EU-Regime festhält und zugleich den WählerInnen immer wieder verspricht (versprechen muss), sozialdemokratische Politik zu machen, muss also in ein entsetzliches Glaubwürdigkeitsdilemma geraten. Die SPÖ-Oberen versprechen, was man unter den EU-Rahmenbedingungen nicht halten kann, und müssen zugleich verschweigen, warum man diese Politik nicht machen kann, weil diese EU-Rahmenbedingungen zuvor für sakrosankt erklärt wurden, ja die SPÖ sogar alles dazu beigetragen hat, diese EU-Rahmenbedingungen durchzusetzen. Ein perfekter Teufelskreis, der zum Niedergang führen muss – fatalerweise in einer Zeit, wo das Bedürfnis nach und die Notwendigkeit für einer soziale und demokratische Politik enorm wachsen, gerade weil diese neoliberalen EU-Rahmenbedingungen soziale und demokratische Wüsten geschaffen haben. Genau diese Politik macht den Raum auf, in dem sich Rechtsextremismus, Rassismus und Militarisierung derzeit treibhausmäßig ausbreiten können.

Dieser Befund trifft keineswegs nur auf die Sozialdemokratie zu. Alexis Tsipras wurde noch 2014 als Spitzenkandidat der „Euro-Linken“ bei den EP-Wahlen gefeiert, ein Jahr später putschte er als griechischer Staatschef gegen die eigene Bevölkerung, die sich mit großer Mehrheit in einer Volksabstimmung gegen die Fortsetzung des Austeritätskurses ausgesprochen hatte. Nicht weniger gnadenlos wie zuvor Sozial- und Christdemokraten peitscht seine Syriza-Regierung den EU-Sozialabbaukurs durch, nachdem der Ausstieg aus Euro und EU zum „eurolinken“ Tabu erhoben wurde.

Damit sollen nicht andere Gründe, die fortschrittliche Politik schwierig machen, bagatellisiert werden, aber ohne Ausbruch aus diesem Teufelskreis, also ohne Enttabuisierung der Frage des EU-Austritts, kann es keinen fortschrittlichen Aufbruch geben – egal ob innerhalb oder außerhalb der Sozialdemokratie.

Gerald Oberansmayr
(Mai 2016)

Quellen:
(1) Andreas Fishan, Herrschaft im Wandel, in: PapyRossa, Köln 2008
(2) Die Presse, 13.5.2016